
«Ich feiere meinen Tag vom Unfall als Wiedergeburtstag, weil ich an der
Unfallstelle zwei Mal tot war und wiederbelebt werden musste»

«Hitzi»
Hitzi’s Energie und sein strahlendes Lächeln lassen nicht vermuten, was der junge Mann erlebt hat. Doch ein Detail sticht ins Auge – sein Rollstuhl. Im Jahr 2011 nahm der damals 17-Jährige an der letzten Party im alten Basler Kinderspital teil. Dort stürzte er vom Balkon zwölf Meter in die Tiefe. Dass er überlebt hat, ist nicht selbstverständlich. An der Unfallstelle wurde er zweimal wiederbelebt und kämpfte sich zurück ins Leben. Seither ist er von der Brust an abwärts gelähmt und Schmerzen begleiten seinen Alltag. Doch Hitzi lässt sich nicht unterkriegen. Er erzählt in dieser Folge unter anderem, wie sich sein Leben seit dem Unfall verändert hat, was er am meisten vermisst, wie unrollstuhlgängig die Welt ist und was er sich von der Gesellschaft wünscht. Wir reden auch über Dates, die Liebe und sein Sexleben. Unter anderem erzählt er, dass er vereinzelt beim Sex wieder eine Art Orgasmus spüren kann (jedoch ohne Ejakulation) und dass Selbstbefriedigung bei ihm nicht klappt. Hitzi ist ein positiver junger Mann von dessen Lebenseinstellung sich jeder Mensch definitiv eine Scheibe abschneiden kann.
«Fakten»
72 Prozent der verunfallten sind Männer.
«Mythen»
Laut Bundesamt für Statistik können rund 67’000 Menschen in der Schweiz nicht laufen (Stand 2017). «Fussgänger/innen» wissen oftmals nichts über das Leben von Menschen im Rollstuhl. Ihre Haltung beruht auf negativen Einstellungen und Klischees. Hier seht ihr einige Mythen, die noch immer in unseren Köpfen herumgeistern. Lasst uns gemeinsam der Stigmatisierung den Kampf ansagen!
Querschnittlähmung tritt nur aufgrund eines Unfalls auf
Nicht nur:
Es gibt Menschen mit einer angeborenen Querschnittlähmung. Doch Rückenmarkschädigungen können auch durch Krankheiten wie Tumore, Blutungen und Infektionen entstehen (nicht-traumatisch). Häufige unfallbedingte Querschnittlähmung sind Stürze, Verkehrsunfälle und Sportunfälle (traumatisch).
Querschnittgelähmte sind nur beim Laufen eingeschränkt
Falsch:
Wenn das Rückenmark beschädigt ist, funktioniert die Informationsübertragung im Körper nicht mehr oder nur teilweise. Je nach Höhe der Schädigung im Rückenmark kommt es zu Lähmungen in Armen und Beinen. Nicht mehr laufen und allenfalls die Arme nur noch eingeschränkt nutzen zu können, ist das eine. Der Verlust von Blasen- und Darmfunktion, Sexualfunktionen, Sensorik etc. das andere.
Bei Paraplegiker/innen ist die untere Körperhälfte (je nach Lähmungshöhe: Beine, Gesäss, Bauch- und unterer Brustbereich) betroffen.
Bei Tetraplegiker/innen ist das Rückenmark im Halswirbelbereich verletzt. Zusätzlich zu den Beinen und dem gesamten Rumpf sind auch die Arme und Hände von der Lähmung betroffen. Wie fest die Einschränkung der Armfunktionen ist, hängt von der Verletzungshöhe ab. Je tiefer unten, desto mehr Restfunktionen bleiben in den Armen erhalten. Bei einer Tetraplegie ist auch die Atemmuskulatur mitbetroffen.
Rollstuhlfahrer/innen können nicht von A nach B reisen
Falsch:
Das wichtigste Hilfsmittel für Querschnittgelähmte ist der Rollstuhl. Trotz fehlender Beinfunktion können sie sich damit fortbewegen. Auch das Handbike kann als Fortbewegungsmittel genutzt werden. Es ist vergleichbar mit einem Fahrrad oder Liegerad, das aber alleine durch die Arme angetrieben wird. Es gibt Modelle, die direkt an den Rollstuhl montiert werden können. Auch umgebaute und vollautomatische Autos leisten einen wesentlichen Beitrag. Gas und Bremse werden in diesen Autos mit der Hand betätigt. Auch können Rollstuhlfahrer/innen mit dem öffentlichen Verkehr reisen. Jedoch ist dies nicht immer ganz einfach. Im öffentlichen Raum lässt die Barrierefreiheit noch immer zu wünschen übrig: Nicht rollstuhlgängige Tramstationen, fehlende Rampen oder keine selbstständige Einstiegsmöglichkeit im Zug sind leider Alltag. Das Reisen mit dem öffentlichen Verkehr benötigt gute Planung.
Rollstuhlfahrer/innen können nicht mehr arbeiten
Nicht unbedingt:
Einige querschnittgelähmte Menschen können arbeiten, wenn sie einen angemessenen Arbeitsplatz haben. 53% der Querschnittgelähmten in der Schweiz sind erwerbstätig. Damit erreicht die Schweiz eine der höchsten Erwerbstätigkeitsquoten bei Querschnittlähmung in Europa. Weltweit liegt die Beschäftigungsrate bei rund 37%.
Querschnittgelähmte haben keinen Sex
Falsch:
Nur aufgrund einer Querschnittlähmung müssen Betroffene nicht auf Lust und Sinnlichkeit verzichten. Allerdings beeinträchtigt die Rückenmarksverletzung fast immer die Sexualfunktionen. Je nach Höhe und Vollständigkeit der Verletzung fallen die Einschränkungen unterschiedlich aus. Jeder und jede spürt und erlebt es anders. Es gibt zum Beispiel Männer, die kriegen eine Erektion ohne Ejakulation, andere mit. Wieder andere haben gar keine Erektion mehr. Es gibt einige Querschnittgelähmte die berichten, nach Monaten oder Jahren wieder einen Orgasmus zu haben. Bei Frauen kann das Feuchtwerden der Scheide ausbleiben und die Orgasmusfähigkeit eingeschränkt sein.
Manche Stellungen sind beim Geschlechtsverkehr nicht mehr möglich oder werden nicht mehr als so lustvoll erlebt wie vorher. Jedoch kann durch neu entdeckte erogene Zonen wie zum Beispiel die Ohren sexuelle Erregung manifestiert werden.
Menschen mit einer Querschnittlähmung können keine Kinder kriegen
Falsch:
Die Rückenmarksverletzung hat keinen Einfluss auf die Fruchtbarkeit und Empfängnis einer Frau, da die Gebärmutter und die Eierstöcke nicht vom Rückenmark aus gesteuert werden. Bei der Geburt ist ein aktives Pressen zwar nicht möglich, jedoch bedeutet dies nicht zwangsläufig eine Kaiserschnittgeburt. Es gibt ein Reizleitungssystem im Uterus, welches eine natürliche Geburt ermöglicht. Auch der Milcheinschuss verläuft meist normal.
Bei den Männer ist die Zeugungsfähigkeit aufgrund der Rückenmarksverletzung häufig beeinträchtigt. Nicht nur die Erektions- und Ejakulationsfähigkeit lässt nach, sondern auch die Qualität und Beweglichkeit der Spermien, was Einfluss auf die Fruchtbarkeit hat. Jedoch gibt es durchaus Möglichkeiten einen Kinderwunsch von querschnittgelähmten Männern zu erfüllen. Zum Beispiel können Spermien direkt aus dem Hoden entnommen und die Frau künstlich befruchtet werden.
Das Leben von Querschnittgelähmten ist eintönig
Falsch:
Menschen im Rollstuhl können ein genauso spannendes und schönes Leben führen wie «Fussgänger/innen». Sie können sich körperlich betätigen und diverse Sportarten ausführen wie zum Beispiel: Rudern, Handbike, Tennis, Skifahren, Basketball etc. Auch Reisen ist heutzutage mit dem Rollstuhl möglich. Länder wie zum Beispiel Amerika sind sehr rollstuhltauglich. Querschnittgelähmte können Sex haben, eine Familie gründen, arbeiten und mit Freunden feiern gehen. Der Alltag braucht zwar etwas mehr Planung, jedoch ist vieles möglich.